Was bedeutet Adel für mich?

In meiner Biografie haben Adel und die Baltischen Ritterschaften vordergründig keine tragende Rolle gespielt. Nach einer vieljährigen Odyssee kam ein Ölgemälde meines Urgroßvaters Julius in unser Wohnzimmer nach München. Die Mundpartie war beschädigt und wurde nach einer weiteren Odyssee restauriert. Ein eher düsterer Herr, der da auf mich blickte (für mich als Dreikäsehoch tat er das von weit oben). Ein Lächeln war auch mit dem erneuerten Mund nicht erkennbar. Julius wurde mir von Papa als ein bedeutender Mann vorgestellt, der zeitgleich mehrere hochverantwortungsvolle Aufgaben in Reval ausgefüllt hat. - Wir haben ein wenig Silberbesteck und ein Aquarell von Paunküll, dem alten Familiensitz, seit Jahrzehnten ein staatliches Altersheim. Papa berichtete von seiner Mutter und zwei Schwestern, die auf der Wilhelm Gustloff umgekommen sind. Nie kennengelernt, haben sie mir immer gefehlt. Und ich spürte von Kindheit an Druck, weil ich der Stammhalter war. Als Papa 1997 ums Leben kam, übernahm ich seinen Siegelring, den ich bei Anlässen mit Respekt trage. Doch die Trauer überwiegt.

Soweit die Fakten.

Geprägt hat mich etwas anderes: das Bild der Tafelrunde. Das ist in meiner Vorstellung eine abendliche Tischgesellschaft von Rittern nach einer geschlagenen Schlacht: Es war um Tod und Teufel gegangen. Oft war es knapp und stets gefährlich zugegangen. Doch sie haben für einander eingestanden, sich gegenseitig geschützt, Rücken an Rücken gekämpft.

Natürlich für eine gute Sache. Und jetzt sitzen sie beieinander, feiern und bedanken sich, dass alles gut ausgegangen ist. Dass sie feiern können.

Sie tragen ihre Farben - auf ihrem Umhang, auf ihren Schildern, auf ihren Helmen. Die Waffen sind abgelegt.

Neben ihren Farben tragen meine Ritter nicht nur Verantwortung für einander, sondern auch für diejenigen, die ihnen anvertraut sind. Meine Ritter essen erst, wenn alle anderen satt sind. Meine Ritter schlafen erst, wenn alles im Haus friedlich ist. Meine Ritter lassen alles stehen und liegen, wenn es irgendwo brennt, wenn Not am Mann ist. Meine Ritter sind die ersten, wenn es in ein dunkles Loch, in den Häuserkampf, in die Angst geht. Sie kümmern sich, kämpfen für die Schwachen und auch für Starke - aus Verpflichtung, von Herzen, aus Loyalität. Sie folgen nicht blind. Sie prüfen, ob die Schwachen eigene Kräfte finden können und ob die Mächtigen so handeln, wie sie es von anderen verlangen. Meine Ritter beugen ihr Haupt vor dem König, ihr Knie vor Gott. Sie sagen, was sie machen. Sie machen, was sie sagen. Ihr Wort zählt. Es ist verlässlich, ich meine: absolut verlässlich. Sie folgen einem Kodex. Einem selbst bestimmten Kodex. Sie sind frei.

Habe ich so einen vollendeten Ritter im wirklichen Leben getroffen? Nein. Er stammt aus einer Ideen- und Idealwelt. Ist mein Ritterspiel ein Klischee, eine Legende, eine Illusion? Ja. Ich weiß von den Gefahren einer Überhöhung und Verklärung. - Die historisch Interessierten werden auf komplexe Lehensstrukturen und äußerst unedle Rivalitäten mit wenig Romantik, die sozial Interessierten auf abstoßenden Machtmissbrauch in einer patriarchalischen Urzeit verweisen. Alles zugestanden, doch hier nicht mein Punkt.

Ich hänge an meiner Vorstellung. Mir war und ist mein Bild eine tragende Stütze, ein Quell der Inspiration - Beseelung, Stärkung, Anregung. Es hat mich mein Leben lang begleitet und bewegt. Wann immer es Momente des Zweifels, gar des Verzweifelns gab, hat mir meine Tafelrunde Kraft gegeben. Ich konnte in Frieden schlafen, weil ein Ritter neben meinem Bett stand und mir zuflüsterte: "Während meiner Wache wird dir nichts geschehen. Du hast mein Wort."

Immer habe ich mir die Fragen gestellt: Was würden die Ritter tun, was mir raten, was von mir verlangen? Was muss ich tun, um dabei sein zu dürfen, um dem Anspruch zu genügen?

Wenn ich mich in meiner Vorstellung verlaufen habe und am Horizont ein vertrautes Banner sah, habe ich mich dorthin aufgemacht, weil es mir einen Ausweg zeigte. Weil es Zuneigung, Sicherheit und Wohlwollen versprach. Und wenn es anders kam, hatte es mir jedenfalls auf dem Weg Mut gegeben.

Fahnen haben es mir angetan. Ob es mein Land, meine Stadt, mein Fußballverein oder meine Familie ist. Das sind wir. Bei BMW habe ich im "Vierzylinder" jeden Tag auf die Fahnen mit dem Propeller geblickt, wie sie dem Wind trotzten und von weitem das Signal setzten: "Das hier, das ist BMW Country. Seid willkommen, aber benehmt euch." Und immer gab es mir das Gefühl mit Stolz dazuzugehören.

Für mich bedeutet Adel, sich am Anspruch zu messen, zu den Besten zählen zu wollen, ein Vorbild zu sein, gerade mit der eigenen Fehlerhaftigkeit:

"Ein Mann muss stark genug sein, sich aus der Eigenart seiner Unvollkommenheit die Vollkommenheit seiner Eigenart zu schmieden" (Emil Ludwig?). Natürlich ist damit nicht nur der Mann gemeint. - Der Anspruch fordert keine weltbewegenden Leistungen, er gilt auch in Richtung Nachbar über den Gartenzaun.

Der Anspruch ist Bürde. Es kann nicht alles gelingen, doch hat es stets von Neuem versucht zu werden. Solange die Kraft reicht. Solange das Herz schlägt. Für mich kann nur gelingen, was mit Abstand zur eigenen Fehlbarkeit angegangen wird. Dieser Abstand ist für mich das Augenzwinkern, das sich-nicht-zu-ernst-Nehmen, der Humor. Und es braucht Gott-Vertrauen. Sich unterwerfen und fallen lassen können und gleichwohl seinen Standpunkt, seine Courage, bewahren. Diese Spannung aushalten.

Die Besten sind nicht die Privilegierten, keine Außenstehenden auf hohem Ross mit Pomp and Circumstances, sondern die Mittigen, Frauen und Männer, die nach Stabilität, Ausgleich, Gemeinsamkeit streben und dadurch Freiheit und Glück für andere schaffen. Sie klagen nicht, sie jammern nicht. Sie machen das Beste aus dem Gegebenen. Und wenn sie das getan haben, - dann ! - können sie richtig und mit Recht feiern.

Adel bedeutet für mich Verpflichtung. Sie ist das alltägliche Bemühen um Verbesserung (in der heutigen Zeit im Wesentlichen) von sozialen Fragen sowie konkrete Hilfestellung:

Unterstützung bei Not durch Organisieren von Linderung (Hilfsdienste, Sammeln, Carepakete), aber auch Unterstützung bei Unsicherheit: Angebote zur Orientierung auf Grundlage einer über Jahrhunderte gewachsenen Gesinnung. Hier ist für mich die Beschäftigung mit historischen/familiären Ursprüngen zu verorten. Es gilt, nicht nur die Verstorbenen zu verehren, sondern aus eigener (Familie-)Geschichte Werte der Ritterlichkeit zu beschreiben und als Anregung weiterzugeben: Engagement, Disziplin, Fairness, Aufrichtigkeit, Standhaftigkeit, Anstand, Eintreten für Schwächere, Prüfung der Mächtigen, Bescheidenheit, Augenzwinkern, Dienen. Und Verbundensein. Bodenhaftung. Nie abheben. Und: nicht sich selbst gefallen, sondern den Mitmenschen. Nicht selbstgefällig, sondern fremdgefällig.

Muss man einen Adelstitel tragen, um nach all dem zu streben? Freilich nicht. Aber der Titel ist ein Ölgemälde, das irgendwie an unsere Wohnzimmerwand geraten ist, an dem wir jeden Tag vorbeigehen und das auf uns schaut. Wir haben es nicht bestellt. Wir haben es übernommen und es ist Teil von uns. Das Ritterspiel hat ein Gesicht bekommen. Nicht mehr, nicht weniger. Wir können mit unseren Geschichten der Gesellschaft etwas bieten. Aus dem Können wird ein Sollen, vielleicht ein Müssen. Adel kann Angebote zur Unterstützung an Mitmenschen machen, die Fragen haben, vielleicht im Übergang sind und nicht weiter wissen: Jugendliche, Berufseinsteiger, junge Familien, "Midlife-Crisler", Alte, Sterbende. Ich bin gewiss, manch einer von ihnen würde es hören wollen. Wir können helfen. Wir können Sinn stiften.

Adel hat bei uns keine institutionelle Funktion mehr. Die Geschichte hat "Stop" gesagt. Was es gibt, sind Nachkommen, Namensträger. Meinen Vorfahren, wie vielen anderen auch, wurden geliebte Mitmenschen und alles Hab und Gut entrissen. Ja, vieles ist geschehen, vieles ging verloren.

Und wir - wir leben und wir machen das Beste daraus!

Mir reichen das Gemälde vom Urgroßvater und mein Siegelring. Und meine Tafelrunde.

Während ich das schreibe, bin ich sicher, dass Julius manches anders oder gar nicht sieht, mir aber doch irgendwie zulächelt.