Der heilige Goalie

Beim Endspiel des olympischen Eishockeyturniers in Vancouver 2010 standen in den Reihen Kanadas und der USA über 40 Spieler aus der NHL. Es war das Beste, was Eishockey auf dem nordamerikanischen Kontinent zu bieten hatte. Alles erfahrene Kempen, mit Narben, Zahnlücken und plattgehauenen Nasen, in ihren Heimatteams Spielführer, Verantwortungsträger, Tonangeber. Viel Alpha und viel Tier. Das Spiel der Spiele war von herausragender Bedeutung. Es war eine Frage der nationalen Ehre.

Im Fernsehen habe ich etwas beobachtet, das mich bewegt hat: die Sache mit dem Goalie.

Das ist der Mann, der dick gepolstert, mit schildartigem Fanghandschuh und XXL Schläger vor seinem Tor steht. Er trägt einen Helm, oft mit furchterregenden Motiven in grellen Farben und einem Gesichtsschutz, hinter dem sein Gesicht nicht zu erkennen ist. Umgekehrt sieht er gerade so viel, wie es sein Gesichtsschutz zulässt. Er ist kein Kraftbulle wie seine Vorderleute, eher eine Katze, flink, schnell, elegant. Er beherrscht den Spagat, und seine Explosivität macht sprachlos, wenn man ihn in seiner behäbigen Michelin-Männchen-Verpackung sieht. Rast ein Gegenspieler auf ihn zu, bleibt er regungslos und zwingt zur Aktion, bis er im letzten Wimpernschlag zugreift. Oder er fischt den Puck mit 200 Stundenkilometern aus der Luft - WHAT A CATCH! - un-fass-bar! - und hält ihn dem Schiedsrichter in seinem Fanghandschuh entgegen, als ob es langweiligeres nicht gäbe. Er kann das Spiel nicht gestalten. Er muss auf andere reagieren. Das ist es jedoch nicht, was mich bewegt hat.

Angreifer und Verteidiger werden laufend ausgetauscht. Die Sprints und Zweikämpfe sind nur wenige Minuten durchzuhalten. Die Spieler sind auf dem Eis oder warten auf ihren Einsatz. Sie sind beisammen, wenn nicht einer auf der Strafbank sitzt. Der Goalie steht allein, ist auf sich gestellt. Wenn seine Mannschaft angreift, bearbeitet er mit den Kufen die Eisfläche vor dem Tor, ohne das Spiel aus den Augen zu verlieren. Oft schiebt er den Halm seiner Trinkflasche durch den Gesichtsschutz und füllt seinen Wasserbedarf auf. Er muss Spannung halten und zugleich Ruhe für die Seinen bewahren. Auch das ein Spagat. Wenn seine Mannschaft verteidigt, herrscht um ihn herum überschlagende Hektik. Drrruck. Gegenspieler verstellen die Sicht. Bellende Rufe zwischen den Akteuren, eisiges Kratzen der Schlittschuhe, tobende Zuschauer, Schweiß in den Augen. Sein Blick rast von Seite zu Seite. Es ist unmöglich, den Überblick zu bewahren. Er verfolgt das Geschehen nicht von oben wie die Zuschauer, sondern von unten, aus gebückter Haltung. Er ist eingeschränkt und macht anderes als die anderen. Er ist die letzte Instanz des Spiels. Sieg oder Niederlage entscheiden sich an seinem Können, seinem Instinkt, seinem Reflex. Aber auch das hat mich nicht bewegt.

In allen Mannschaften der Welt wird der kleinste Angriff auf den Goalie mit heftigen Attacken auf den Angreifer beantwortet. Kein Kompromiss. Dem Goalie darf kein Gegner zu nahe kommen. Wenn ein Mitspieler noch so erschöpft ist, stürzt er sich mit allem, was er hat, auf den Angreifer, sobald der seinen Goalie bedrängt.

Alphatiere prügeln ohne Hemmung los, wenn es heißt: unser Goalie ist in Gefahr! Angreifer und Verteidiger sind das Herz des Spiels, der Goalie ist die Seele.

Mich hat bewegt, dass die Spieler ihren Goalie wie einen heiligen Mann behandeln.

Vor dem Spiel bauen sich die Mannschaften um ihren Goalie auf, bilden einen Schutzwall. Anschließend ziehen sie zum Aufwärmen ihre Kreise um das Tor. Der Schutzwall wird auseinandergezogen. Dabei fährt jeder am Goalie vorbei und stupst ihm - fast liebevoll - mit dem Handschuh auf den Helm. Immer, immer, immer wieder. Auch im Spiel: Sobald er den Puck sichert, gleiten sie an ihm vorbei und stupsen auf seinen Helm. Bei jeder Unterbrechung des Spiels: zum Goalie und auf den Helm stupsen. Nach dem Abpfiff: als erstes zum Goalie. Stupsen. Dieses Stupsen (Schlagen wäre viel zu viel gesagt, Hand auflegen wäre die falsche Botschaft) hat mir Gänsehaut gemacht. Diese selbstverständliche automatische, nie in Frage stehende Bezeugung von Respekt, zugleich die Erhebung des Goalies zum Mittelpunkt, auf den alle zulaufen und der alle eint. Mir imponiert die Hochachtung, die in Fleisch und Blut übergegangen ist, selbst an den Grenzen der Belastung. Mir imponiert, dass die Allein-Stellung des Goalies ihn nicht isoliert, sondern ihm Einbindung sichert.

Warum finde ich das so bewegend? Weil es "Team der Wertschätzung" bedeutet, wie ich es mir vorstelle: jeder an seinem Platz, jeder so gut er kann. Keiner verliert denjenigen, der eine andere Position hält, aus den Augen, auch und gerade wenn er benachteiligt ist. Dem Goalie begegnet jeder mit höchster Achtung, ob Kapitän oder Auswechselspieler. UND: jeder gibt Vertrauen. Uneingeschränktes Vertrauen. Egal, was geschieht, egal, welche Fehler gemacht werden, egal, ob wir untergehen oder Helden werden: "Du, dem ich auf den Helm stupse, Du bist MEIN Goalie. Vielleicht bist Du nicht der Beste auf der Welt, aber Du bist der Beste, den wir haben. Wir brauchen dich. Wir verlassen uns auf Dich, auf Deine Ruhe, auf Dein Können. Und Du kannst Dich auf uns verlassen. Wir schützen Dich. Wir sind von Dir abhängig und - das macht uns stark! Wir sind froh und stolz, dass Du das bist. Es ist eine Ehre für uns." Ein Codex freier, starker Männer, die gemeinsam gewinnen und es allen zeigen wollen.

Diese Männer wird man im Zweifel keine Schöngeister nennen, keine, die unter zu viel Reflexion leiden, aber sie haben Eindeutigkeit und Orientierung durch Regeln. Diese Regeln ermöglichen Erfolg. Vielleicht sind die Regeln selbst schon der Erfolg. Die Klarheit gibt Stärke, genauer: gibt den Rahmen für den zielgerichteten Einsatz von Stärke, so wie der Magnet die Eisenspäne ausrichtet. Der Goalie ist ein heiliger Mann. Er ist es deshalb, weil ihn das Team so behandelt. Nur die Vertrauten dürfen ihn berühren. Aus dem Furcht einflößenden Helm wird ein Symbol der Ehrfurcht. Es ist eine Geste des Respekts, in der sich ungeheurer Zusammenhalt ausdrückt.

Welch eine Kraft! Ich finde es großartig.

Und Du - wie gehst Du mit Deinem Goalie um?