Toronto - Stadt meiner Bewegung

Ich hatte ein Zimmer in Kanada. Nur für 4 Wochen gemietet. Mit Selbermachfrühstück und gemeinsamem Abendessen. Bett durchgelegen, und das Bad mit zwei Mitbewohnern zu teilen. Unter keinen Umständen gleichzeitig! Dafür kein Drama zwischen Streep und Redford in einem landwirtschaftlichen Betrieb jenseits von Afrika, weil in Down Town Toronto Ontario Conodo.

Kraftverlust auf dem Flug. Kopfhörer im Handgepäck. Das musste ich aufgeben. Dringende Empfehlung des Bodenpersonals. Von Leuten, die nicht mitfliegen müssen. Keine Stärkung - auch und gerade nicht durch den Lynch chicken-or-vegetables-what-is-what-Fragezeichen -, sondern bis zur Hälfte des Flugs Meile für Meile Absinken der Lebensfreude. In der zweiten Hälfte Ausgleich durch Zielannäherung. Insgesamt Negativsaldo.

Ankunft auf grautönigem Teppichboden. Erst Leute auf Rollbändern, dann Koffer. Einwanderungsbegrüßungskomitee kein/e Wo/Man in Black mit blöden Fragen für blöde Antworten, sondern Tuchscreen. - Gebuchter Limousinenservice. Wie in einem Krankenwagen Slalom durch den Stau zum Zielzimmer.

Anlass der Reise: Besuch einer Englischschule. Ein Ameisenhaufen von jungen Handyträgern und Lehrern mit Fotokopien auf der Suche nach dem richtigen Zimmer.

Alles nur beliebiger Rahmen. Was mich bewegt, sind Begegnungen, - wenn sich Leute mitteilen, teilen, was sie berührt, was sie antreibt, warum sie hier sind, vom Alltag daheim. Wenn man sich schätzen, mögen, lieben lernt.

Begegnung kann Belästigung sein, wenn keine Bindung besteht. Berührungsloses Dümpeln ohne Verletzungsgefahr. Verstohlener Blick auf die Uhr, Suche nach Ausrede. Auslassen einer Gelegenheit, durch ein Schlüsselloch zu schauen und etwas zu verstehen, etwas von einem anderen, der Einblick gewährt. Es geht nix zam.

Begegnung kann Bestärkung sein, wenn Bindung entsteht. Da alle das harte Englischbrot kauen müssen, hört man genauer zu und achtet auf den Unterschied zwischen Senden und Empfangen. Niemand unterstellt Klarheit im Gespräch, - weder verstanden zu haben noch verstanden zu werden. Das ist mühsam und ungemein hilfreich.

Das Konzentrieren auf was-sage-ich-was-verstehe-ich bietet Überraschungen - Erkenntnisse, die man nicht erwartet hat, die nicht zu den vorschnellen Unterstellungen passen. Obacht, Leben is watching you.

D., IT-Spezialistin aus Chile, schämt sich, wenn sie Fehler macht, sie fürchtet sich im Wald der Ungewissheit und ist so weit weg von daheim. Von allem Vertrauten. Es ist aufgegeben. Keine Empfehlung des Bodenpersonals, sondern Ansage des Ehemanns. Das neue Daheim plus berufliche Neuorientierung soll hier gemeinsam in Toronto entstehen. Der Mann kann nicht stützen. Auch er fürchtet sich.

U., türkischer Ex-Soldat, hat in Afghanistan getötet. Er küsst meine Hand wie es daheim Söhne mit Vätern tun.

F., aus einem Provinzkaff in Frankreich, möchte mit Frau und Tochter nach Kanada auswandern. Er ist über 60 Jahre. Sein Englisch ist nicht ausreichend. Kein Gedankenspiel. Eine Wohnung ist bereits angemietet.

J., aus Kolumbien, hat seinen Job als Programmierer verloren und überbrückt seine Bewerbungszeit mit Englischlernen. Laufender Blick in die in-box.

K., Jungbulle, ringt mit seinem Sprachunvermögen, ist grellblond gefärbt, und der Haaransatz wird wieder schwarz. In seiner Altersklasse ist er unter den 4 besten Karatekämpfern Japans.

H., aus dem Universum, sucht das große Ganze, lebt in beruflicher Bedeutungslosigkeit, schläft auf dem Boden, ernährt sich in Vernunft und Demut, grüßt jeden mit bohrender Freundlichkeit. Redet einem die Ohren wund, ohne Zusammenhang, ohne Ziel, wie 1000 und eine Nacht. Als ob er sterben würde, wenn er mit dem Reden aufhörte. Ich gebe Contra. Er soll Ordnung in seine Gedanken bringen oder meine Ohren schonen. Er ist mein Gastgeber. Das Haus gehört ihm und seiner Frau. Ich bin zu Respekt verpflichtet. Sein Abschied: you honored our home.

Bewegung und Bewegendes

Die U-Bahn knattert los, quietscht zum Halt. Stationsankündigung durch Automaten. Menschen ertragen's in starrer Unauffälligkeit. Sprachloser Rückzug hinter Kopfhörern oder Zeitungen. Kein Ort der Bekräftigung. Transportiert, schiebt nicht an. Fußmarsch auf der Oberfläche ist der bessere Weg. Ich wandere am Tag durch die Hauptstraße. Die "Straße" ist knapp 1.900 km lang! Was immer ich schaffe, es ist ein Bruchteil. Zwischen den Hochhäusern scheppern die Presslufthämmer. Der Radau drängt die Fußgänger zur Eile. Drängende Menschen fordern zu machen, nicht zu denken. Haschgeruch irritiert. Die Luftfeuchtigkeit auch.

Das Straßenbild wirkt gleichtönig. Fußgänger unterscheiden sich kaum. Der Ansatz Angleichung durch Integration scheint plausibel: Wenn eine Einwanderungs-Gesellschaft aufnahmefähig - elastisch - bleiben möchte, wird sie sich auf das größte Gemeinsame verständigen müssen, damit alle, die dürfen, hineinpassen. Und diejenigen, die hineinpassen wollen, werden sich anpassen müssen - Integration durch Angleichung. So wird das alltägliche Miteinander verträglich-erträglich. Doch gibt es Nichtalltägliches (den Event), wird alles in Schale geworfen, hemmungslos aus der Einheitlichkeit ausgebrochen. Grell, schreiend, das Pinkste von Pink. Austesten der Peinlichkeitsgrenze. Die Blendung zwingt den Zuschauer zur Sonnenbrille. Alles immer lässig, selbstverständlich und selbstbewusst.

Sonntagsspaziergang in einen 08/15 Stadtpark. Vertrockneter Rasen. Tennisplätze, Basketball. Ein paar Bäume für die Hundlis. Dieser Tage: internationales Jazz-Festival, heute: Swing Big Band. Genau mein Ding! Aber sowas von. Auf der Bühne die Bläser hinter Klappschildern sitzend, Schlagzeug, Klavier. Alle im hellblauen Hemd. Ich bestaune: Können in Selbstverständlichkeit. Wer auf der Bühne ist, kann was. Der gehört dorthin. Die nichts können, haben auf dieser Bühne nichts zu suchen, weil nichts verloren. Immer lässig, selbstverständlich und selbstbewusst. Zur Mitte der Aufführung, please welcome: die Solosängerin. Die gehört ganz klar auf die Bühne! Die ist für Jazz geboren. Ihr Gesang trägt den Park. Ein paar Meter weiter wirft ein langer Schlacks völlig unberührt seine Bälle in den Korb. Pärchen boogie woogen ohne Anstrengung. Publikum auf Decken und Klappstühlen. Jeder wie er mag. Alles beswingt. Nach der Vorstellung schiebt die Sängerin in Flip-Flops ihr Fahrrad durch die Zuschauermenge. Nach Hause? Auf ein Eis? Man wird sehen. Lässiger geht's nicht.

Der Englischlehrer, knapp über 20, Eltern aus Italien, ehemaliger Eishockeyjugendnationalmannschaftsspieler, beschreibt sein Verhältnis zum hiesigen Eishockeyteam: Das ist der Toronto Maple Leaf Hockey Club von 1917, Teamfarben Blau und Weiß. Punkt. Doppelpunkt: "They can't do wrong. They're my home team." Klingt lässig, selbstverständlich und selbstbewusst. Doch was er wirklich sagt: D-A-S S-I-N-D D-I-E L-E-A-F-S!! Und er ist mit ihnen verbunden. Unter allen Umständen. Unauflöslich. Für immer. Was immer sie tun. Er leidet, ist glücklich. Er jubelt, ist stocksauer. Wenn sie aufs Eis kommen, brennt es. Das Stadion, sein Herz. Ihn fröstelt vor Brennen. Das meint er. Und bei mir kommt an: Mann, wie stark! Nicht überlegen. Überlegen sein. Erfolg durch Aufopferung, Geschwindigkeit, Unüberwindbarkeit.

Am Bahnhof hängen überdimensionale Poster von den Leafs. Das sind keine Aua-Rasenroller, keine sich-vor-Schmerz-ins-Gesicht-Fasser, keine den-Schiri-Anheulsusen. Das sind um-die-gebrochene-Nase-kümmer-ich-mich-nach-dem-Spiel-ich-bin-hier-noch-nicht-fertig-Eistitanen. Vorbilder. Ach ja, Poster am Bahnhof: Welcome in Toronto. So simma.

Abflug. Mit dem Schlimmsten gerechnet. Gruppe 6 beim einchecken. Die Looser. Nicht einmal das Einscannen des Tickets will funktionieren. Ich bekomme ein anderes: Ein Upgrade in die Business Class. Mensch, obacht, das Leben! Und jetzt wie ein Königskind über den Wolken gleiten. Es tut so gut, wie jemand besonderes behandelt zu werden. Ach, Meryl und Robert - ich bin euch so nah!

Was bewegt noch?

Leben in der Fremde ist anders als Urlaub. Man fängt bei Null an, kennt sich nicht aus (nicht nur den Weg zum Frühstücksbuffet), kennt niemanden, fühlt sich gestrandet, mit dem Dosenöffner in der Wildnis. Am Ende sind die Wege bekannt, werden Gewohnheit. Bindungen entstehen, Wertschätzungen, Rückkoppelung nach gemeinsamen Erlebnissen, Einordnungen, vielleicht Freundschaften, jedenfalls ein Netz an Bekanntschaften, Austausch von Adressen, vielleicht fadenscheinig, doch weit mehr als zu Beginn. So ruft mir ein Mitschüler zu, als mir die Wiedereingliederung in die alte Gewohnheit daheim schwerfällt: "Toronto ist immer für dich da." Auch das tut gut.

Begegnung lebt von Sprache. Sprachlosigkeit macht machtlos. Sprachbeherrschung macht mächtig. Sprache schützt vor Verwundbarkeit. Ich jedenfalls habe auf mich allein bezogen wenig mehr Schutz als meine Sprache. Deshalb achte ich auf sie. Lehrer sind für mich Schutz-Entwicklungs-Helfer. Sie lehren nicht Technik. Sie machen Schüler stark. Join the Leafs! Das gelingt nur, wenn Lehrer Schüler mögen. Von Herzen mögen. Nur das bewegt, lässt einen wachsen.

Die mögen einen hier. Vermutlich auch, weil sie aus einst machtlosen Familien stammen.

Ach, und von meinen Lehrern und Mitschülern hab ich gelernt: Ich verdiene es, geliebt zu werden. Punkt.